Optionsscheine: Der Hebel-Guide für Einsteiger – Chancen, Risiken & Strategien
Optionsscheine gehören zu den faszinierendsten und gleichzeitig am meisten missverstandenen Finanzprodukten. Sie locken mit der Chance, mit geringem Kapitaleinsatz überproportional an den Kursbewegungen von Aktien, Indizes oder Rohstoffen zu partizipieren. Doch dieser Hebel-Effekt ist ein zweischneidiges Schwert, das ohne ein fundiertes Verständnis schnell zu hohen Verlusten führen kann.
Dieser umfassende Ratgeber dient als Ihre zentrale Anlaufstelle. Wir erklären die grundlegende Funktionsweise, zeigen Ihnen anhand konkreter Beispiele, wie der Hebel in der Praxis funktioniert, grenzen sie von anderen Derivaten wie Zertifikaten ab und weisen auf die unvermeidbaren Risiken hin.
Was ist ein Optionsschein und für wen eignet er sich?
Ein Optionsschein ist im Kern ein verbrieftes Recht, einen bestimmten Basiswert (z.B. eine Aktie) zu einem festgelegten Preis (Basispreis) bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (Verfallstag) zu kaufen (Call-Optionsschein) oder zu verkaufen (Put-Optionsschein).
Der entscheidende Punkt ist: Sie kaufen nicht den Basiswert selbst, sondern nur das Recht darauf. Dafür zahlen Sie eine vergleichsweise geringe Prämie, den Optionsscheinpreis. Typischerweise interessieren sich daher spekulativ orientierte Anleger für Optionsscheine, die mit einer klaren Marktmeinung und einem begrenzten Einsatz eine überproportionale Rendite erzielen möchten.
Eine Analogie: Stellen Sie es sich wie eine Anzahlung für ein Haus vor. Mit einer Anzahlung von 50.000 € kontrollieren Sie ein Haus im Wert von 500.000 €. Steigt der Wert des Hauses um 10 % auf 550.000 €, hat sich Ihr eingesetztes Kapital verdoppelt. Genau dieses Prinzip des geringeren Kapitaleinsatzes macht die Hebelwirkung von Optionsscheinen aus.
Der Hebel in der Praxis: Zwei Rechenbeispiele
Um den Effekt greifbar zu machen, vergleichen wir ein Direktinvestment mit dem Einsatz von Optionsscheinen.
Beispiel 1: Aktie XYZ
Angenommen, die Aktie XYZ notiert bei 100 € und Sie erwarten einen Anstieg auf 120 € (+20 %).
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Szenario A: Direktinvestment
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Einsatz: Sie kaufen 10 Aktien für 1.000 €.
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Ergebnis: Die Aktien steigen auf 120 €. Ihr Depotwert ist 1.200 €.
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Gewinn: 200 €
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Rendite: (20 %)
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Szenario B: Investment in einen Call-Optionsschein Ein Call-Optionsschein auf die Aktie hat folgende Parameter: Basispreis 90 €, Preis 1,50 €, Bezugsverhältnis 0,1. Das bedeutet, Sie benötigen 10 Scheine, um das Recht auf eine Aktie zu erwerben.
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Einsatz: Sie kaufen 100 Optionsscheine (entspricht dem Recht auf 10 Aktien) für 100 * 1,50 € = 150 €.
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Ergebnis: Die Aktie steigt auf 120 €. Der innere Wert pro Schein ist am Ende (120 € - 90 €) * 0,1 = 3 €. Ihr Depotwert ist 100 * 3 € = 300 €.
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Gewinn: 300 € - 150 € = 150 €
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Rendite: (150 € Gewinn / 150 € Einsatz) = 100 %
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Mit einem Bruchteil des Kapitals (150 € vs. 1.000 €) haben Sie eine fünfmal so hohe Rendite erzielt.
Beispiel 2: DAX-Index
Angenommen, der DAX steht bei 18.000 Punkten. Um an der Bewegung von einem DAX-Punkt (im Wert von 1 €) zu partizipieren, bräuchten Sie über einen ETF oder Future ein Kapital von 18.000 €. Bei einem typischen DAX-Optionsschein mit einem Bezugsverhältnis von 0,01 benötigen Sie 100 Scheine, um einen DAX-Punkt abzubilden. Kosten diese Scheine z.B. 2 € pro Stück, beträgt Ihr Einsatz nur 200 € – mit dem gleichen Ergebnis wie bei einem Einsatz von 18.000 €.
Die Wissenschaft hinter dem Preis: Das Black-Scholes-Modell
Die Preisbildung eines Optionsscheins ist keine Willkür des Emittenten. Sie basiert auf komplexen mathematischen Modellen, allen voran dem Black-Scholes-Modell. Diese Formel, die auch für die Bewertung von echten Optionen verwendet wird, war so revolutionär, dass ihre Entwickler dafür 1997 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhielten.
Das Modell bezieht alle relevanten Faktoren wie Kurs, Basispreis, Restlaufzeit, Volatilität und Zinsen mit ein, um einen fairen theoretischen Preis zu ermitteln. Die genaue Funktionsweise und die Ableitung der wichtigen "Griechen" (Kennzahlen wie Delta, Vega etc.) sind entscheidend für ein tiefes Verständnis.
➡️ Für eine detaillierte Aufschlüsselung der Formel lesen Sie unseren Artikel zu Optionen.
Optionsscheine vs. Knock-Out-Zertifikate: Ein entscheidender Unterschied
Neben Optionsscheinen sind Knock-Out-Zertifikate sehr beliebt. Der Hauptunterschied liegt im Risiko:
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Knock-Out-Zertifikate besitzen eine feste Barriere (den "Knock-Out"). Wird diese Barriere vom Basiswert auch nur für eine Sekunde berührt, verfällt das Zertifikat sofort und ist in der Regel wertlos. Es ist ein plötzlicher Tod.
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Optionsscheine haben keine solche Barriere. Ihr Wert kann durch eine ungünstige Kursentwicklung und den täglichen Zeitwertverfall zwar ebenfalls auf null sinken, aber sie können sich bis zum Ende der Laufzeit wieder erholen, solange der Verfallstag nicht erreicht ist.
Warum auch Scheine "im Geld" attraktiv sind
Oft jagen Anleger den Scheinen mit dem höchsten Hebel hinterher, die meist weit "aus dem Geld" liegen. Strategisch klüger kann jedoch oft der Kauf eines Scheins sein, der bereits "im Geld" ist (also einen inneren Wert besitzt). Diese sind zwar teurer und haben einen geringeren Hebel, bieten aber Vorteile:
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Geringerer Zeitwertanteil: Sie sind weniger anfällig für den reinen Zeitwertverfall.
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Direktere Partizipation: Sie bewegen sich prozentual stärker mit dem Basiswert mit (haben ein höheres Delta).
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Geringeres Risiko: Sie bieten einen Puffer, da sie bereits einen realen Wert haben.
Die unvermeidbaren Risiken: Emittentenrisiko & Totalverlust
Trotz aller Chancen dürfen die Risiken nie ignoriert werden:
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Totalverlustrisiko: Notiert der Schein am Verfallstag nicht im Geld, verfällt er wertlos. Ihr gesamter Einsatz ist verloren.
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Emittentenrisiko: Ein Optionsschein ist eine Schuldverschreibung der ausgebenden Bank (des Emittenten). Sollte diese Bank insolvent werden, ist Ihr Schein wertlos – selbst wenn der Basiswert sich perfekt entwickelt hat.
Markt & Relevanz: Ein Blick auf die Zahlen
Der Handel mit Optionsscheinen und Zertifikaten ist in Deutschland ein riesiger Markt. Der Deutsche Derivate Verband (DDV) meldet regelmäßig Handelsumsätze in Milliardenhöhe. Banken und Online-Broker bieten eine riesige Auswahl von oft über einer Million verschiedener Hebelprodukte an, da diese bei Privatanlegern sehr beliebt sind und den Emittenten stetige Einnahmen generieren.
Vertiefen Sie Ihr Wissen: Unsere Tools & weiterführenden Artikel
Das Verständnis der Preisbildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Nutzen Sie unsere speziell entwickelten Ressourcen, um Ihr Wissen zu vertiefen und teure Fehler zu vermeiden:
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