Veröffentlicht: 12.September 2025 · Zuletzt aktualisiert: 21.Oktober 2025
Autor: Sebastian Fiedler – Day-Trader seit 2016
Hinweis: Dieser Artikel stellt keine Anlageberatung dar.
💡 Zusammenfassung
ETFs sind technische Wunderwerke der Effizienz – doch in Panikphasen zeigen sie, dass Liquidität kein Naturgesetz ist, sondern Vertrauen, das in Sekunden verschwinden kann.
Die tickende Zeitbombe? Warum ETFs scharfe Marktkorrekturen und Flash-Crashes beschleunigen können
Exchange-Traded Funds (ETFs) sind das Sinnbild des modernen, demokratisierten Investierens. Sie sind transparent, kostengünstig und werden von Giganten wie BlackRock (iShares) und Vanguard verwaltet. Doch hinter dieser Fassade der Einfachheit verbirgt sich eine komplexe Marktmechanik, die in Stressphasen eine unbeabsichtigte, prozyklische Wirkung entfalten kann. Immer mehr Experten warnen davor, dass die schiere Größe des ETF-Marktes eine der Hauptursachen für die zunehmende Heftigkeit von Korrekturen und Flash-Crashes sein könnte.
Um das zu verstehen, müssen wir tief in den Maschinenraum der ETFs eintauchen. Wir erklären, was technisch passiert, wenn massenhaft Liquidität aus ETFs abfließt – und wie daraus eine verheerende Abwärtsspirale entstehen kann.
Die zwei Ebenen der ETF-Liquidität
Ein ETF besitzt zwei voneinander getrennte Liquiditätsebenen:
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Sekundärmarkt-Liquidität: Das ist der Handel, den Sie als Anleger kennen. Sie kaufen und verkaufen ETF-Anteile an der Börse, genau wie bei einer Aktie.
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Primärmarkt-Liquidität: Dies ist die „Großhandels-Ebene“, auf der sogenannte Authorized Participants (APs) agieren – meist große Investmentbanken oder spezialisierte Market Maker.
Wichtig ist, diesen Primärmarkt nicht mit dem Primärmarkt eines Börsengangs zu verwechseln. Bei einem IPO werden Anteile einmalig vom Unternehmen an die ersten Investoren ausgegeben. Dagegen ist der Primärmarkt eines ETFs ein fortlaufender Prozess, der das Angebot an ETF-Anteilen flexibel an die Nachfrage anpasst. Er funktioniert wie ein ständiger Druckausgleich im System – und genau dort entsteht in Stressphasen die größte Spannung.
Dieser zweite Mechanismus ist der Schlüssel zum Verständnis des ETF Crash-Risikos.
Der Maschinenraum: Wer sind die APs und wie handeln sie?
Authorized Participants (APs) sind das Bindeglied zwischen ETF-Anlegern und dem zugrunde liegenden Indexkorb. Es handelt sich um große Finanzinstitute (z. B. Goldman Sachs, J.P. Morgan, Citadel Securities), die mit dem ETF-Anbieter vertraglich verbunden sind. Ihre Aufgabe: Preisbindung zwischen Börsenkurs des ETF (Sekundärmarkt) und NAV (innerer Wert der gehaltenen Wertpapiere).
Warum kaufen APs ETF-Anteile, wenn der ETF „zu billig“ wirkt?
Weil sie eine risikoarme Arbitrage sehen: Notiert der ETF-Preis unter NAV, können APs an der Börse günstige ETF-Stücke aufsammeln, diese beim Anbieter einlösen (Redemption) und im Gegenzug den physischen Aktienkorb erhalten. Diesen verkaufen sie direkt am Kassamarkt (oder hedgen über Futures) – die Differenz ist ihr Arbitragegewinn. Umgekehrt, wenn der ETF über NAV notiert, liefern APs den Aktienkorb in-kind an den ETF und erhalten frisch geschaffene ETF-Anteile (Creation), die sie mit Aufschlag am Markt verkaufen.
Kauft/verkauft der ETF-Anbieter die Aktien?
Im Regelfall nicht. Der Standard in großen, physisch replizierenden ETFs ist der in-kind-Tausch:
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Bei Creation bringt der AP die Aktien ins ETF-Vermögen und erhält ETF-Anteile.
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Bei Redemption gibt der AP ETF-Anteile zurück und erhält die Aktien aus dem ETF-Vermögen.
Der ETF-Anbieter ist dabei die Abwicklungsstelle, nicht der Verkäufer am Markt. Ausnahme: Bei kleineren Märkten oder bestimmten Produkten gibt es cash creations/redemptions – dann wird tatsächlich (teilweise) bar abgerechnet und der Fonds kauft/verkauft Aktien. Das ist aber eher die Minderheit bei großen, liquiden Indizes.
„Aber Sparpläne ab 25 € – kauft der ETF-Anbieter dann ständig Bruchstücke?“
Nein. Bruchstücke entstehen auf Brokerebene: Dein Broker führt Kleinstorders seiner Kunden zusammen, handelt ganze ETF-Stücke am Sekundärmarkt und verwaltet Bruchteile buchhalterisch für dich. Creation/Redemption passiert nur in großen Blöcken (Creation Units, z. B. 50 000 Anteile). Erst wenn die aggregierten Nettozuflüsse/-abflüsse groß genug sind, wird eine Creation/Redemption im Primärmarkt angestoßen. So bleibt das System effizient.
Wie halten APs das Risiko klein?
APs hedgen fortlaufend: Während sie ETF-Anteile kaufen/verkaufen, neutralisieren sie Marktrisiko mit Index-Futures oder synthetischen Körben (Program Trading). Die Arbitrage ist damit überwiegend ein Basis-Trade (Preis- vs. NAV-Spread), kein Blanko-Marktrisiko.
💡 So funktioniert ETF-Arbitrage in 30 Sekunden
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Ein ETF-Anteil notiert unter seinem Nettoinventarwert (NAV) → Arbitragechance.
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Ein Authorised Participant (AP) kauft ETF-Anteile günstig am Sekundärmarkt und tauscht diese beim Anbieter gegen den Korb der zugrunde liegenden Aktien (Redemption).
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Diese Aktien werden dann am Markt veräußert → Preisrückgang drückt Einzelaktienkurse.
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Sinkende Aktienkurse reduzieren den ETF-NAV → weitere Verkäufe → Rückkopplungsschleife unter Illiquiditätsbedingungen möglich.
Wer erzeugt den Verkaufsdruck? Eine Kaskade aus Akteuren
1) Privatanleger & Institutionelle
Privatanleger stoppen Sparpläne oder verkaufen Anteile. Große Adressen (Fonds, Pensionskassen, Hedgefonds) bewegen jedoch die Nadel: Anstatt hunderte Einzeltitel zu drehen, reduzieren sie Risiko mit einem einzigen ETF-Block (z. B. S&P-500-ETF). Das ist schneller, günstiger und reduziert Ausführungsfehler. Ergebnis: sekundärmarktseitig fällt der ETF-Preis.
2) Authorized Participants (APs)
Sobald der ETF unter NAV rutscht, kaufen APs die ETF-Anteile (sie stellen damit Liquidität) und lösen sie beim Anbieter ein. Wichtig: Die ausgelieferten Aktien landen beim AP, der sie am Kassamarkt veräußert oder mit Futures glattstellt. Der ETF-Anbieter verkauft typischerweise nicht selbst.
Wer kauft diese Aktien dann?
Der Kassamarkt besteht weiterhin aus:
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Market Makern/Designated Sponsors, die Quotes stellen (mit größerem Spread in Stressphasen, aber sie verschwinden nicht vollständig – es gibt regulatorische Mindestanforderungen und Anreizmodelle).
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Natürlichen Käufern (langfristige Fonds, Factor-/Index-Trader, Corporate Buybacks), die bei niedrigeren Kursen bereitstehen.
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Arbitrageuren zwischen Bar- und Terminmarkt, die Preisunterschiede nutzen.
Kommt es zur starken Illiquidität, weiten sich Spreads und die verfügbaren Volumina aus Orderbüchern nehmen ab – das ist der Punkt, an dem Preislücken (Gaps) und ETF-NAV-Entkopplungen entstehen können. Vollständiges „Weggehen“ des Marktes verhindern Handelsunterbrechungen (z. B. Volatility Interruptions in der EU, Limit-Up/Limit-Down in den USA) – aber sie verlagern den Preisfindungsdruck in Auktionsphasen.
Warum beschleunigt das die Abwärtsbewegung?
Weil der Sekundärmarkt-Verkaufsdruck (ETF) über AP-Redemptions mechanisch in Kassaverkäufe des Indexkorbs übersetzt wird. Sinkende Einzeltitel drücken den NAV, ein niedrigerer NAV „rechtfertigt“ den tieferen ETF-Preis – die Rückkopplung bleibt, bis neue Käufer (oder Handelsunterbrechungen/Auktionen) den Kreislauf brechen.
Zusatz: Voll replizierende vs. synthetische ETFs – unterschiedliches Stressprofil
- Physische (voll replizierende) ETFs
Halten den Aktienkorb (ggf. Sampling). Creation/Redemption erfolgt überwiegend in-kind. In Stressphasen entsteht das Risiko v. a. durch Marktliquidität der Einzeltitel: weite Spreads, dünne Orderbücher, Auktionsphasen → temporäre NAV-Abweichungen möglich. Vorteil: Geringes Kontrahentenrisiko (Wertpapiere liegen im Fonds), klarer Durchgriff auf den Korb. -
Synthetische ETFs (Swap-basiert)
Der Fonds hält Sicherheiten (Collateral) und tauscht per Total-Return-Swap die Indexrendite mit einer Bank. Vorteil: exakte Indexabbildung auch bei schwer handelbaren Märkten. Stresspunkte:-
Kontrahenten-/Besicherungsrisiko (Qualität und Liquidität des Collateral; i. d. R. streng reguliert und täglich nachbesichert),
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Swap-Pricing: In extremer Volatilität kann die Swap-Spanne steigen; das kann kurzfristig die Koppelung von ETF-Preis an den „theoretischen“ Indexwert belasten, bis die Nachbesicherung greift.
Empirisch zeigen auch synthetische ETFs in Flash-Phasen temporäre Preisabweichungen, aber die Ursache verlagert sich teils vom Kassamarkt-Orderbuch (physisch) zum Derivate-/Collateral-Segment (synthetisch).
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Fazit zur Risikodifferenz:
Beide Strukturen können in Stressphasen vorübergehend vom NAV abweichen – physische eher durch Kassamarkt-Illiquidität, synthetische eher durch Swap/Collateral-Mechanik. Dauerhafte Entkopplungen sind selten, weil Arbitrage (sobald wieder möglich) die Spreads schließt.
Die Abwärtsspirale: Was bei einer ETF-Massenflucht technisch passiert
Stellen wir uns ein Marktschock-Szenario vor, das durch die oben genannten Akteure in Gang gesetzt wird.
Schritt 1: Panikverkäufe auf dem Sekundärmarkt Anleger und Fonds verkaufen massenhaft ihre ETF-Anteile an der Börse.
Schritt 2: Die Arbitrage-Lücke öffnet sich Durch die Verkaufsflut fällt der Preis des ETF-Anteils rapide und notiert nun deutlich unter seinem NAV.
Schritt 3: Die APs (Banken & "Schattenbanken") beginnen den Redemption-Prozess Die APs kaufen in riesigem Stil die "billigen" ETF-Anteile am Markt auf, um sie beim ETF-Anbieter gegen die "teuren" echten Aktien einzutauschen.
Schritt 4: Der Verkauf der zugrunde liegenden Aktien (Der Brandbeschleuniger) Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Bei Redemption gibt der AP ETF-Anteile an den Fonds zurück und erhält in-kind den zugrunde liegenden Aktienkorb. Der AP veräußert diese Aktien (oder hedgt sie) am Markt. Nur bei weniger verbreiteten Cash-Redemptions kauft/verkauft der Fonds selbst
Schritt 5: Die tödliche Rückkopplungsschleife Die massive und undifferenzierte Verkaufswelle der ETF-Anbieter trifft nun auf den ohnehin schon panischen Aktienmarkt.
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Die Kurse der im ETF enthaltenen Aktien geraten unter extremen Druck und fallen weiter.
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Durch das Fallen der Aktienkurse sinkt der NAV des ETFs noch weiter.
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Der fallende NAV und die schlechte Marktstimmung lösen eine neue Welle von ETF-Verkäufen durch Anleger und Fonds aus.
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Die Arbitrage-Lücke bleibt bestehen, was die APs zu weiteren Redemptions veranlasst, was wiederum zu weiteren Aktienverkäufen durch die großen ETF-Anbieter führt.
Wenn Market Maker Risiko reduzieren (nicht komplett verschwinden), steigen die Ausführungskosten (Spreads) und sinkende Volumina erhöhen die Preissensitivität – das ist der Nährboden für intraday-Mini-Crashes und ETF-NAV-Gaps. Regulatorische Mechanismen (Volatilitätsunterbrechungen, LULD) stabilisieren die Preisfindung, ersetzen sie aber nicht.
Das Flash-Crash-Szenario: Wenn die Liquidität versiegt
Kritisch wird es, wenn auch die Liquidität der zugrunde liegenden Aktienmärkte austrocknet. In solchen Phasen ziehen sich Market Maker zurück, weil sie keine fairen Kurse mehr stellen können.
Dann stoppen auch die APs ihre Arbitrage-Aktivität – das Risiko, ETF-Anteile zu kaufen, ohne die erhaltenen Aktien wieder liquide veräußern zu können, wird zu groß.
Der Arbitrage-Mechanismus bricht zusammen: Der ETF-Kurs kann sich vollständig vom NAV entkoppeln. Genau das geschah beim „ETF Flash Crash“ vom 24. August 2015, als Dutzende ETFs kurzzeitig mit Abschlägen von über 20 % zum inneren Wert handelten.
Fazit: Das systemische Risiko der ETF-Giganten
ETFs sind in normalen Marktphasen ein effizientes und stabiles Instrument. Doch ihre Struktur – insbesondere die zentrale Rolle der Authorized Participants und die extreme Marktkonzentration bei wenigen Anbietern – kann in Stressphasen prozyklisch wirken.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ETFs kurzfristige Marktbewegungen verstärken, nicht verursachen. In illiquiden Märkten oder bei gleichzeitiger Panik vieler Akteure kann die ETF-Struktur jedoch als Verstärker wirken – ähnlich einem Resonanzkörper, der vorhandene Schwingungen intensiver zurückwirft.
Für Anleger bedeutet das: ETFs sind keine tickende Zeitbombe, aber sie sind kein risikofreies Parkhaus für Kapital.
Wer sie versteht, kann sie weiterhin gezielt und effizient nutzen – doch wer ihre Mechanik ignoriert, unterschätzt die Dynamik moderner Finanzmärkte.
📚 Quellen & weiterführende Hinweise
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European Systemic Risk Board (ESRB): “Can ETFs contribute to systemic risk?” (Reports of the Advisory Scientific Committee No 9, Juni 2019).
- Bank for International Settlements (BIS): “Market structures and systemic risks of exchange-traded funds” (Working Paper 343, Juli 2011).
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BIS Quarterly Review (September 2018): Divergences widen in markets – behandelt u. a. ETFs und Marktstruktur. Link zur Ausgabe:
-
European Securities and Markets Authority (ESMA): “UCITS Exchange-Traded Funds – Which? Final Report” (2014) – Abschnitt zur Divergenz von ETF-Preis und NAV bei Marktstress.
-
European Fund and Asset Management Association (EFAMA): Market Insights #13 – UCITS ETFs in Europe (November 2023) – Abschnitt zu physischen vs. synthetischen ETFs und Belastungen bei Stressphasen.
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