Implizite Volatilität bei Optionsscheinen: Der entscheidende Faktor für Preis, Risiko und Rendite

Für Anleger, die sich in die Welt der Hebelprodukte wagen, sind Optionsscheine oft das Instrument der Wahl. Doch während viele auf die Richtung des Marktes oder den Hebel achten, übersehen sie die mächtigste und oft missverstandene Kraft, die den Preis dieser Derivate diktiert: die implizite Volatilität. Ein tiefes Verständnis dieser Kennzahl ist kein Luxus, sondern die grundlegende Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg und die Vermeidung kostspieliger Fehler.

Dieser Artikel analysiert wissenschaftlich fundiert und dennoch praxisnah, wie die implizite Volatilität bei Optionsscheinen funktioniert, wie sie sich von echten Optionen unterscheidet und wie Sie dieses Wissen strategisch für Ihre Handelsentscheidungen nutzen können.

Der fundamentale Unterschied: Wer bestimmt die Volatilität?

Um die Preisstruktur von Optionsscheinen zu verstehen, muss man zuerst den entscheidenden Unterschied zu echten, an Terminbörsen wie der Eurex gehandelten Optionen kennen. Die Antwort liegt in der Preisfindung und der Rolle der Volatilität.

 

Echte Optionen: Die Weisheit des Marktes

 

Bei börsengehandelten Optionen wird die implizite Volatilität nicht von einer zentralen Instanz "festgelegt". Sie ist das Ergebnis eines Preisfindungsprozesses durch Angebot und Nachfrage. Der am Markt gehandelte Preis einer Option (die Prämie) wird in ein Bewertungsmodell (z.B. Black-Scholes) eingesetzt. Die implizite Volatilität ist dann jene Unbekannte, die "rückwärts" errechnet wird, um den Marktpreis zu erklären. Sie repräsentiert somit den Konsens aller Marktteilnehmer über die erwartete zukünftige Schwankungsbreite des Basiswerts.

 

Optionsscheine: Die Macht des Emittenten

 

Hier liegt der entscheidende Unterschied: Bei Optionsscheinen bestimmt der Emittent (die herausgebende Bank) die implizite Volatilität. Ein Optionsschein ist ein Wertpapier, für das der Emittent als alleiniger Market Maker agiert. Er stellt die An- und Verkaufskurse (Geld- und Briefkurse) und nutzt zur Berechnung seine eigenen, internen Preismodelle.

Die implizite Volatilität ist dabei die zentrale Stellschraube des Emittenten. Er kann sie basierend auf seiner eigenen Markteinschätzung, seinem Risikomanagement und der Nachfrage anpassen. Für Anleger bedeutet dies, dass die Preisbildung weniger transparent ist und direkt von den Annahmen einer einzigen Partei abhängt.

Vega: Die Volatilitäts-Kennzahl und ihre Aussagekraft

Um die Auswirkung der Volatilität zu quantifizieren, nutzen professionelle Händler die "Griechen". Die für die Volatilität entscheidende Kennzahl ist das Vega.

Definition: Das Vega gibt an, um wie viele Geldeinheiten der Preis eines Optionsscheins steigt oder fällt, wenn die implizite Volatilität um einen Prozentpunkt steigt oder fällt.

  • Beispiel: Ein Call-Optionsschein auf die Aktie X kostet 2,50 €. Sein Vega beträgt 0,08. Steigt die vom Emittenten angenommene implizite Volatilität von 25 % auf 26 %, so steigt der Preis des Optionsscheins theoretisch um 8 Cent auf 2,58 €, auch wenn sich der Kurs der Aktie X keinen Millimeter bewegt hat.

Das Vega zeigt Ihnen also direkt das Preisrisiko bzw. die Preischance, die allein aus einer Änderung der Volatilität resultiert. Sowohl Call- als auch Put-Optionsscheine haben ein positives Vega, da eine höhere Unsicherheit (Volatilität) die Chance erhöht, dass der Schein am Ende der Laufzeit "im Geld" landet, was den Zeitwert beider Varianten steigert.

Wie die Volatilität den Preis eines Optionsscheins diktiert

 

Der Preis eines Optionsscheins setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:

  1. Innerer Wert: Die positive Differenz zwischen dem aktuellen Kurs des Basiswerts und dem Strike-Preis (bei Calls) oder umgekehrt (bei Puts). Ein Schein "aus dem Geld" hat einen inneren Wert von Null.

  2. Zeitwert: Der Aufpreis, den Anleger für die Chance zahlen, dass der Schein während der Restlaufzeit noch einen (höheren) inneren Wert entwickelt.

Die implizite Volatilität ist der Haupttreiber des Zeitwerts.

[Grafik: Kuchendiagramm oder Balkendiagramm, das den Preis eines Optionsscheins in "Innerer Wert" und "Zeitwert" aufteilt. Ein Pfeil mit der Aufschrift "Implizite Volatilität" zeigt direkt auf den Zeitwert-Anteil.]

Eine hohe implizite Volatilität bedeutet, dass der Markt (bzw. der Emittent) starke Kursschwankungen erwartet. Diese hohe Unsicherheit macht die Chance auf zukünftige Gewinne wertvoller und treibt den Zeitwert – und damit den Gesamtpreis des Optionsscheins – nach oben. Dies gilt für Calls und Puts gleichermaßen.

 

Die Volatilität strategisch nutzen: Wann lohnt sich der Kauf?

 

Ein kluger Anleger kauft einen Optionsschein nicht nur, weil er eine bestimmte Kursbewegung erwartet, sondern auch, weil er die aktuelle Volatilität bewertet.

 

Kaufen bei niedriger Volatilität

 

Der strategisch beste Zeitpunkt für den Kauf eines Optionsscheins ist in einer Marktphase mit historisch niedriger impliziter Volatilität. Der Schein ist dann relativ "günstig". Wenn Sie nun eine Kursbewegung des Basiswerts erwarten und diese eintritt, profitieren Sie doppelt:

  1. Durch die Kursbewegung selbst (Delta).

  2. Durch eine potenziell ansteigende Volatilität, die den Zeitwert Ihres Scheins zusätzlich erhöht (positives Vega).

 

Wann man Optionsscheine meiden sollte: Die "Volatility Crush"

 

Umgekehrt sollte man extrem vorsichtig sein, Optionsscheine zu kaufen, wenn die implizite Volatilität bereits sehr hoch ist. Typische Beispiele sind kurz vor der Veröffentlichung von Quartalszahlen, Zinsentscheiden oder Wahlen.

  • Die Scheine sind in dieser Phase extrem teuer, da viel Unsicherheit eingepreist ist.

  • Sobald das Ereignis vorbei ist und die Unsicherheit weicht, kollabiert die implizite Volatilität regelrecht (ein "Volatility Crush").

  • Die Folge: Der Zeitwert des Optionsscheins zerfällt. Selbst wenn Sie mit der Kursrichtung richtig lagen, kann der Wertverlust durch die sinkende Volatilität Ihren Gewinn auffressen oder sogar zu einem Verlust führen.

 

Praktische Aspekte für Anleger: Von Risiko bis Hebelwirkung

 

 

Das unterschätzte Emittentenrisiko

 

Im Gegensatz zu echten Optionen tragen Optionsscheine ein Emittentenrisiko. Da es sich um eine Schuldverschreibung der ausgebenden Bank handelt, erleidet der Anleger einen Totalverlust, sollte der Emittent insolvent werden – unabhängig davon, wie gut sich der Basiswert entwickelt hat.

 

Das Bezugsverhältnis richtig interpretieren

 

Das Bezugsverhältnis (oft 10:1 oder 0,1) gibt an, wie viele Optionsscheine man benötigt, um eine Einheit des Basiswerts zu kontrollieren.

  • Beispiel: Ein Bezugsverhältnis von 0,1 bedeutet, dass 10 Optionsscheine den Wert einer Aktie abbilden. Steigt die Aktie um 1 €, steigt der innere Wert jedes einzelnen Optionsscheins nur um 0,10 €. Dies muss bei der Preiskalkulation immer berücksichtigt werden.

 

Die Mechanik des Hebels

 

Der Hebel entsteht, weil Sie mit einem geringeren Kapitaleinsatz (dem Preis des Optionsscheins) an der Bewegung eines teureren Basiswerts partizipieren. Ein Hebel von 10 bedeutet, dass der Optionsschein prozentual zehnmal so stark auf eine Kursänderung des Basiswerts reagiert. Dies wirkt in beide Richtungen und ist der Grund für das hohe Risiko.

 

Spekulationsgrad: Aus dem Geld, am Geld oder im Geld?

 

Die Wahl des Strike-Preises bestimmt maßgeblich den spekulativen Charakter eines Optionsscheins.

[Grafik: Eine Kurve des Aktienkurses. Drei Zonen sind markiert: Der aktuelle Kurs ist "Am Geld" (ATM). Kurse darunter sind für einen Call "Im Geld" (ITM), Kurse darüber "Aus dem Geld" (OTM).]

  • Aus dem Geld (Out of the Money - OTM): Der Strike-Preis liegt noch in weiter Ferne. Der Schein hat keinen inneren Wert, sein Preis besteht nur aus Zeitwert. Dies ist die spekulativste Variante. Der Hebel ist am höchsten, aber das Risiko eines Totalverlusts ebenfalls, da eine starke Marktbewegung nötig ist.

  • Am Geld (At the Money - ATM): Der Strike-Preis liegt sehr nah am aktuellen Kurs. Diese Scheine reagieren am sensibelsten auf Kurs- und Volatilitätsänderungen (hohes Gamma, hohes Vega). Sie bieten eine ausgewogene Mischung aus Chance und Risiko.

  • Im Geld (In the Money - ITM): Der Schein besitzt bereits einen inneren Wert. Er ist teurer, der Hebel ist geringer und das Risiko ist niedriger, da er bereits einen realen Wert hat. Dies ist die am wenigsten spekulative Variante.

Die kritische Frage: Lohnt sich ein Schein, wenn er den Strike erreicht?

 

Ein weit verbreiteter und fataler Irrtum ist die Annahme, ein Call-Optionsschein sei im Gewinn, sobald der Basiswert den Strike-Preis erreicht. Die Antwort ist ein klares Nein.

Um profitabel zu sein, muss der Kurs des Basiswerts den Break-Even-Punkt überschreiten. Dieser berechnet sich wie folgt:

  • Break-Even (Call) = Strike-Preis + (Preis des Optionsscheins x Bezugsverhältnis)

  • Break-Even (Put) = Strike-Preis - (Preis des Optionsscheins x Bezugsverhältnis)

Sie müssen also nicht nur den Strike-Preis erreichen, sondern der Basiswert muss so weit darüber (bei Calls) bzw. darunter (bei Puts) notieren, dass er die von Ihnen bezahlte Prämie vollständig kompensiert.

Diese Erkenntnis ist der erste und wichtigste Schritt, um teure Fehler zu vermeiden. Doch warum ist das so und welche fundamentalen Irrtümer, insbesondere im Umgang mit Optionsscheinrechnern und dem Konzept des Zeitwerts, führen immer wieder zu Verlusten? Für eine tiefgehende Analyse dieser kritischen Punkte lesen Sie unseren weiterführenden Artikel: Die 5 größten Irrtümer bei Optionsscheinen (und wie Sie teure Fehler vermeiden).

 

Fazit

 

Die implizite Volatilität ist bei Optionsscheinen keine passive Risikokennzahl, sondern eine aktive, vom Emittenten gesteuerte Preiskomponente. Für Anleger ist es unerlässlich, die aktuelle Volatilität im historischen Kontext zu bewerten, die Funktionsweise des Vega zu verstehen und den Break-Even-Punkt vor jedem Kauf exakt zu berechnen. Wer Optionsscheine kauft, wenn die Volatilität hoch ist, kauft teuer und setzt sich dem Risiko eines "Volatility Crush" aus. Wer hingegen in Phasen niedriger Volatilität agiert und die Mechanismen von Zeitwert, Hebel und Emittentenrisiko versteht, kann dieses kraftvolle Derivat strategisch und mit einem klaren Risikobewusstsein für seine Ziele einsetzen.