Die tickende Zeitbombe? Warum ETFs scharfe Marktkorrekturen und Flash-Crashes beschleunigen können
Exchange-Traded Funds (ETFs) sind das Sinnbild des modernen, demokratisierten Investierens. Sie sind transparent, kostengünstig und werden von Giganten wie BlackRock (iShares) und Vanguard verwaltet. Doch hinter dieser Fassade der Einfachheit verbirgt sich eine komplexe Marktmechanik, die in Stressphasen eine unbeabsichtigte, prozyklische Wirkung entfalten kann. Immer mehr Experten warnen davor, dass die schiere Größe des ETF-Marktes eine der Hauptursachen für die zunehmende Heftigkeit von scharfen Korrekturen und Flash-Crashes sein könnte.
Um das zu verstehen, müssen wir tief in den Maschinenraum der ETFs eintauchen. Wir erklären, was technisch passiert, wenn massenhaft Liquidität aus ETFs abfließt und wie dies eine verheerende Abwärtsspirale auslösen kann.
Die zwei Ebenen der ETF-Liquidität
Ein ETF besitzt zwei Liquiditätsebenen:
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Sekundärmarkt-Liquidität: Das ist der Handel, den Sie als Anleger kennen. Sie kaufen und verkaufen ETF-Anteile an der Börse, genau wie bei einer Aktie.
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Primärmarkt-Liquidität: Dies ist die unsichtbare "Großhandels-Ebene". Hier agieren die sogenannten Authorized Participants (APs) – meist große Investmentbanken oder Market Maker.
Für Leser mit tieferen Kenntnissen ist es wichtig, diesen Primärmarkt nicht mit dem Primärmarkt bei einem Börsengang (IPO) zu verwechseln. Bei einem IPO werden Anteile einmalig vom Unternehmen an die ersten Investoren ausgegeben. Der Primärmarkt eines ETFs hingegen ist ein fortlaufender, täglicher Prozess, bei dem das Angebot an ETF-Anteilen flexibel an die Nachfrage angepasst wird. Er funktioniert wie die Schleusen eines Kanals, die den Wasserstand permanent regulieren, und nicht wie eine einmalige Schiffstaufe.
Dieser zweite Mechanismus ist der Schlüssel zum Verständnis des ETF Crash-Risikos.
Der Maschinenraum: Wer sind die APs und wie handeln sie?
Die Authorized Participants sind das Bindeglied zwischen dem ETF-Anleger und den zugrunde liegenden Aktien. Es handelt sich dabei um große Investmentbanken (Goldman Sachs, J.P. Morgan) oder spezialisierte Handelshäuser, die oft als Teil des "Schattenbankensystems" agieren – also hochregulierte Finanzinstitute, die massive Liquidität bereitstellen, aber keine klassischen Banken sind.
Diese APs haben einen speziellen, rechtlichen Vertrag mit den ETF-Anbietern (wie BlackRock), der es ihnen erlaubt, ein einzigartiges Tauschgeschäft durchzuführen, um den ETF-Preis an seinen realen Wert zu binden. Dieser reale Wert wird Nettoinventarwert (Net Asset Value, kurz NAV) genannt. Der NAV ist der tagesaktuelle, exakte Wert aller im ETF enthaltenen Aktien, geteilt durch die Anzahl der ETF-Anteile.
Der Handel zwischen AP und ETF-Anbieter funktioniert so:
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Creation (Erschaffung): Wenn der ETF-Anteil an der Börse teurer ist als sein NAV, liefert der AP den exakten Korb der zugrunde liegenden echten Aktien an den ETF-Anbieter. Im Gegenzug erhält er dafür einen großen Block fabrikneuer ETF-Anteile (eine "Creation Unit"), die er mit Gewinn an der Börse verkauft.
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Redemption (Rücknahme): Wenn der ETF-Anteil an der Börse günstiger ist als sein NAV, liefert der AP einen großen Block ETF-Anteile an den ETF-Anbieter zurück. Im Gegenzug erhält er dafür den Korb der echten Aktien, die er mit Gewinn am Markt verkauft.
Dieser als Arbitrage bekannte Prozess ist der Grund, warum der Redemption-Vorgang in einer Krise zum Brandbeschleuniger wird.
Wer erzeugt den Verkaufsdruck? Eine Kaskade aus verschiedenen Akteuren
Der Verkaufsdruck ist keine einzelne Welle, sondern eine Kaskade, die von verschiedenen Akteuren ausgelöst und verstärkt wird. Große Fonds und Hedgefonds handeln massiv mit ETF-Anteilen – oft in viel größerem Umfang als Privatanleger.
Hier sind die Akteure in der Reihenfolge ihres Auftretens in einer Krise:
1. Die Auslöser: Privatanleger UND Institutionelle Anleger
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Privatanleger: In einer Panik stoppen viele ihre ETF-Sparpläne oder verkaufen ihre angesparten Anteile, um Verluste zu begrenzen. In der Summe kann dies bereits signifikanten Druck erzeugen.
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Institutionelle Anleger (Fonds, Hedgefonds, Pensionskassen): Das ist der entscheidende Faktor. Für einen großen Fonds, der sein Marktrisiko schnell reduzieren will, ist der Verkauf eines ETF-Pakets (z.B. im Wert von 500 Millionen Dollar auf den S&P 500) unendlich viel einfacher und schneller als der Verkauf von 500 Einzelaktien. ETFs sind für sie ein primäres Werkzeug für schnelles Hedging und taktische Umschichtungen. Wenn diese "Giganten" verkaufen, erzeugen sie einen enormen, unmittelbaren Verkaufsdruck auf den ETF-Anteil am Sekundärmarkt.
2. Die Überträger & Verstärker: Die Authorized Participants (APs)
Die APs (also die großen Investmentbanken) sehen nun, dass der ETF-Anteil an der Börse aufgrund der Verkäufe von Anlegern und Fonds billiger ist als sein innerer Wert (NAV). Jetzt beginnt ihre Arbitrage-Tätigkeit:
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Sie kaufen die billigen ETF-Anteile von den panischen Verkäufern an der Börse auf.
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Sie lösen diese Anteile beim ETF-Anbieter (z.B. BlackRock) ein und erhalten dafür die zugrunde liegenden Aktien.
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Sie verkaufen diese Aktien sofort am Markt, um ihren risikolosen Gewinn zu sichern.
Die APs handeln also nicht aus Panik. Ihre Verkäufe sind rein mechanisch und profitgetrieben. Sie sind der Transmissionsriemen, der den Verkaufsdruck aus dem ETF-Markt aufnimmt, bündelt und verstärkt in den eigentlichen Aktienmarkt weiterleitet.
Die Abwärtsspirale: Was bei einer ETF-Massenflucht technisch passiert
Stellen wir uns ein Marktschock-Szenario vor, das durch die oben genannten Akteure in Gang gesetzt wird.
Schritt 1: Panikverkäufe auf dem Sekundärmarkt Anleger und Fonds verkaufen massenhaft ihre ETF-Anteile an der Börse.
Schritt 2: Die Arbitrage-Lücke öffnet sich Durch die Verkaufsflut fällt der Preis des ETF-Anteils rapide und notiert nun deutlich unter seinem NAV.
Schritt 3: Die APs (Banken & "Schattenbanken") beginnen den Redemption-Prozess Die APs kaufen in riesigem Stil die "billigen" ETF-Anteile am Markt auf, um sie beim ETF-Anbieter gegen die "teuren" echten Aktien einzutauschen.
Schritt 4: Der Verkauf der zugrunde liegenden Aktien (Der Brandbeschleuniger) Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Um die ETF-Anteile der APs zurückzunehmen, ist der ETF-Anbieter – zum Beispiel BlackRock für seine populären iShares-ETFs – gezwungen, die echten Aktien (Apple, Microsoft, Amazon etc.) aus seinem Portfolio auf dem offenen Markt zu verkaufen, um sie den APs auszuhändigen.
Schritt 5: Die tödliche Rückkopplungsschleife Die massive und undifferenzierte Verkaufswelle der ETF-Anbieter trifft nun auf den ohnehin schon panischen Aktienmarkt.
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Die Kurse der im ETF enthaltenen Aktien geraten unter extremen Druck und fallen weiter.
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Durch das Fallen der Aktienkurse sinkt der NAV des ETFs noch weiter.
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Der fallende NAV und die schlechte Marktstimmung lösen eine neue Welle von ETF-Verkäufen durch Anleger und Fonds aus.
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Die Arbitrage-Lücke bleibt bestehen, was die APs zu weiteren Redemptions veranlasst, was wiederum zu weiteren Aktienverkäufen durch die großen ETF-Anbieter führt.
Dieser Mechanismus wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Der anfängliche Verkaufsdruck im ETF-Markt wird durch den Redemption-Prozess direkt und verstärkt in den zugrunde liegenden Aktienmarkt übertragen.
Das Flash-Crash-Szenario: Wenn die Liquidität versiegt
Die Situation wird noch gefährlicher, wenn die Liquidität im zugrunde liegenden Markt selbst austrocknet. In einem Flash Crash ziehen sich die Market Maker zurück.
In diesem Moment stoppen die APs – die Banken und "Schattenbanken", die den Markt stützen sollen – ihre Arbitrage-Tätigkeit. Es ist für sie zu riskant, ETF-Anteile zu kaufen, wenn sie nicht sicher sein können, die zugrunde liegenden Aktien schnell und zu einem fairen Preis wieder verkaufen zu können. Der Arbitrage-Mechanismus bricht zusammen.
Die Folge: Der Preis des ETF-Anteils entkoppelt sich komplett von seinem NAV und kann ins Bodenlose fallen, da nur noch panische Verkäufer, aber keine stützenden Käufer oder Arbitrageure mehr im Markt sind.
Fazit: Das systemische Risiko der ETF-Giganten
ETFs sind in normalen Marktphasen brillant. Doch ihre Struktur und die Konzentration des Marktes auf wenige riesige Anbieter wie BlackRock, Vanguard und State Street bergen ein systemisches Risiko. In einer Krise kann ihr Mechanismus den Verkaufsdruck nicht dämpfen, sondern verstärken und synchronisieren. Wenn Anleger einen breit gestreuten ETF verkaufen, werden hunderte von Aktien gleichzeitig und unbesehen ihrer fundamentalen Bewertung auf den Markt geworfen.
Für Anleger ist es daher entscheidend zu verstehen, dass sie mit einem ETF nicht nur eine Sammlung von Aktien, sondern auch ein komplexes strukturelles Produkt mit eigenen, immanenten Risiken erwerben.
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